Ulrich im Linzgau und Wendelgard

919 n. Chr.: Aus den verworrenen und gewalttätigen Zeiten des deutschen Mittelalters werden uns meistens nur Bilder von Streit, Kampf und Drangsalen jeglicher Art. Es werden auch ernste Erinnerungen an die Vergänglichkeit menschlicher Grösse, an den Wechsel und Unbestand irdischen Glückes vorgeführt. Führt dann auch der Gang der Geschichte auf Vorgänge friedlicherer oder freudigerer Natur, so sind es die Szenen menschlicher Grösse, die auf der Bühne der Welt hervortreten und die Augen der Menschen fesseln. Es sind Vorgänge, welche geräuschvoll und prangend sich in die Jahrbücher der Geschichte eintragen, oft aber keineswegs die wahren bestimmenden Gründe der Geschicke der Menschheit sind. Sie mögen  vielleicht für Geschichtsinteressierte keinerlei Bedeutsamkeit haben.

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Bücher St. Gallen

Hier tritt uns eine andere Szene entgegen, in der sich edlere Züge jener Zeiten verkörpern: Die Reinheit und Treue ihrer Liebe, der fromme, dem Jenseits zugewendete und opferfreudige Sinn ihres Glaubens. Es ist eine Szene des freudigen, unerwarteten Wiedersehens langer getrennten Liebe, die uns hier vorgeführt wird.

Wer aber ist die hohe Frau, in deren Arme sich der Pilger im schlichten Gewand wirft? Und was macht die Bettler und Krüppel, welche mit freudiger, staunender Teilnahme dieser wunderbaren Begegnung zuschauen, zu Teilnehmern so vertrauter Bezeigungen ihrer Höheren? Und was brachte der Diener, der mit forschendem Blicke den Fremdling ausspäht und um dessen Mund die Entdeckung ein freudiges Lächeln hervorruft?

Steinle: Zeichnung aus dem Jahr 1862

Der Vorgang gehört nicht der Wiegengeschichte eines jener erlauchten Geschlechter an, die sich aus dem Untergang des grössten Teiles des alten deutschen Adels in die Neuzeit herübergerettet haben und seit Jahrhunderten mit geschichtlicher Bedeutung an der Spitze der Völker walteten. Das Geschlecht, das er angeht, ist, wie so viele, schon in früher Zeit in seinem Mannesstamm erloschen und sein Erbe ist an Andere übergegangen. In der Zeit seiner Blüte war es ein Edles und Hohes und stammte aus glänzenden Verbindungen.

Die Stätte seines Waltens war der Linzgau, der sich dem Thurgau gegenüber über die nordöstlichen Uferlandschaften des Bodensees erstreckte und seinen Namen von dem alemannischen Stamme der Lenzen haben mag, während sich derselbe auch noch in dem Namen des Dorfes Linz bei Pfullendorf erhalten hat, und der ehedem auch noch den Schussengau und den Argengau umfasste; in welches letzteren Hauptorte Lindau die Grafen des Linzgaues vornehmlich walteten.

Zwei grosse Geschlechter waren in diesem Gebiete heimisch, von denen das Eine sich in Ruhm und Macht bis auf unsere Tage behauptet hat: das der Welfen. Nicht aber in diesem Hause, sondern in dem der späten Grafen von Bregenz und von Buchhorn war das Grafenamt im Linzgau allmählich ein fast erbliches. Der alemannische Herzog Gotefried, der um 708 starb, war der Urgrossvater der Imma (gest. 798), die einem nicht mit Sicherheit bekannten Gemahlen den Gerold, der als bayrischer Markgraf 799 starb, die Kaiserin Hildegard (gest. 783), Karls des Grossen Gemahlin, und Ulrich I. gebar, den wir 802 als Grafen im Argengau und im Linzgau finden. Seine Söhne Ulrich II. und Rodbert, sein Enkel Ulrich III. (um 858), dessen Sohn Ulrich IV. (um 885) walteten in gleicher Würde in beiden Gauen. Dem Letztern gebar seine Gemahlin Berchta, ausser der Irmintrud und der Berchta, welche Aebtissinnen geistlicher Stiftungen wurden, und dem mit Engelbirg vermählten Gerold, auch den Grafen Ulrich V., den Helden unserer Szene.

Er hatte seinen Sitz in Buchhorn am Bodensee, dem jetzigen Friedrichshafen, und war der Erste aus seinem Geschlecht, der sich von Buchhorn nannte. Bereits waren ihm aus seiner Ehe mit der schönen und frommen Wendelgard, die durch ihre Mutter Hedwig dem Stamme Kaiser Heinrichs I. angehörte, zwei Söhne und eine Tochter geboren, als ihn der Kriegsruf gegen die Ungarn aufbot (916) und von dem geliebten Weibe trennte. Die Kriege jener Zeit waren meist nur Züge von Wochen und Monaten, nach deren Verlauf zum eigenen Herde zurückkehrte, wen immer das Schwert des Feindes geschont hatte. Diesmal aber sah Wendelgard vergebens nach der gehofften Rückkehr des teuren Gatten aus, und kein Turmwärter wollte das freudige Zeichen geben, dass der gefeierte Burgherr an der Spitze seiner Schaaren von Kampf und Sieg zu den Seinen heimkehre. Er war in die Hände der wilden Ungarn gefallen und man glaubte ihn tot, oder einem schlimmeren und nicht minder hoffnungslosen Geschicke, der Knechtschaft der heidnischen Barbaren, verfallen.

Als ein Jahr ohne weitere Nachricht von ihm vergangen war, ließ sich Wendelgard bei St. Gallen als Klausnerin einkleiden, damit das Gelübde ablegend, fortan keinem Mann auf Erden wieder angehören zu wollen und ihr zukünftiges Leben nur Werken der christlichen Milde und Frömmigkeit zu widmen. Jährlich aber beging sie am Jahrestag seiner Abreise zu Buchhorn ein Trauerfest, um den Geschiedenen, bei welchem sie reiche Spenden unter die Armen verteilte, die sich von nah und fern zu dieser Feier einfanden und deren Gebeten sie die Seele des Geliebten empfahl, der ihr für tot galt.

Zum zweiten Male erfüllte sie (919) diese Liebestat und auch diesmal kamen Arme, Gebrechliche, Pilger von allerlei Geschlecht und Alter und Stand in Mengen herbeigeströmt, von den Wohltaten der frommen und milden Gräfin zu genießen. Da drängt sich aus der Mitte der Bittenden ein Pilger hervor, stürzt sich auf die Gräfin los und fasst die Überraschte in seine Arme. Schon wollen die Diener der Gräfin ihn für so frevelnden Übermut züchtigen. Doch bereits hat die hohe Frau mit Entzücken auch in der verstellenden Tracht und den abgezehrten Zügen den teuren Vermissten erkannt, und bald umringen ihn die treuen Diener voll jubelnder Freude. Es war ihm gelungen, aus der Gefangenschaft zu entkommen und er war als Pilger zur Heimat zurückgezogen, um erst unerkannt zu erforschen, wie sich die Seinen in den Jahren der Trennung gehalten haben. Der Anblick der geliebten Frau, das sich so treu und edel bezeigt, hatte ihm nicht mehr gelassen sein Geheimnis noch länger zu bewahren. Bischof Salomo von Constanz entband Wendelgard ihres Gelübdes und die Gatten vereinten sich wieder zum treuen Bunde der Liebe.

Doch war die nächste Frucht dieser Ehe der Tod der Mutter. Es war dies Burkhard, von den Umständen, unter denen er ins Leben trat, der Ungeborene genannt, dem geistlichen Stande gewidmet und später Abt zu St. Gallen (959). Von dem ältesten Sohne Ulrichs V. und Wendelgards, dem Grafen Ulrich VI., stammten die Grafen von Bregenz, welche 1097 mit einem Ulrich ausstarben. Der zweite Sohn Adelhard stiftete die Linie der Grafen von Buchhorn, aus welchen sein Enkel Otto das Grafenamt im Linzgau verwaltet zu haben scheint (um 1058) und die mit dessen Sohne gleiches Namens 1089 erloschen.

Das Gedächtnis der treuen und frommen Wendelgard aber lebt noch immer an den Gestaden des Bodensees in den Herzen des Volkes, das die einstmals mächtigen Grafen des Linzgaues längst vergessen hat.

Grafenliebe

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Im heutigen Linzgau gibt es zahlreiche Orte und Sehenswürdigkeiten, die Zeugnisse  für seine lange Geschichte sind.

Schließt man die Orte der vergangenen Einzugsgebiete des Linzgaus mit ein, so wird einem bewusst welche große Bedeutung diese Region für die Geschichte Europas und der Menschheit gehabt hat.

Einige dieser besonderen Orte können Sie über die nebenstehenden Links besuchen.